Südhessen Morgen vom 23. September 2019

Von Kevin Schollmaier

LAMPERTHEIM. Die roten Heliumballons schweben fast schon bedrohlich über der Lampertheimer Heide. Sie markieren beim Protesttag der „Bürgerinitiative Lampertheim Lebensraum vor ICE-Trasse“ (Bila) den möglichen Verlauf der gefürchteten ICE-„C-Trasse“. „Wahnsinn, wie nah das an Neuschloß vorbeigeht“, sagt Jürgen Katzmarzik, der mit seiner Familie gekommen ist. Er wirkt schockiert. Vor Ort sieht eben alles noch einmal anders aus als auf dem Papier, sagt die Bürgerkammervorsitzende und Mitorganisatorin Carola Biehal. Einschneidend und bedrohlich wirkt die Vorstellung, eine ICE-Trasse könnte sich vom Biotop „Bruch“ bis nach Neuschloß über Felder und Bäume erstrecken.
Deshalb hat die Bila auch für den Sonntag erneut eine Protestaktion gegen den geplanten Teilabschnitt zwischen Lorsch und Mannheim auf der künftigen ICE-Neubaustrecke Frankfurt-Mannheim aufgerufen. Kritisiert wird von Landwirten und Bürgern vor allem, dass die mögliche Trasse eine diagonale Zerschneidung von Feld und Wald sowie eine Streckenführung unweit von Neuschloß mit sich bringen würde. Man sei nicht grundsätzlich gegen eine Neubaustrecke. Aber man fordere eine Variante, die deutlich nachhaltiger sei.


Größtes Waldgebiet Südhessens
„Kommt die Variante C“, prognostizieren die Bila-Sprecher Ulrich Guldner und Karl Hans Geil, „wird von diesem Wald nicht mehr viel übrig sein“. Dabei erinnern die Organisatoren des Protesttages auch an notwendige Zufahrtswege für schweres Gerät, die aus ihrer Sicht bei einer Autobahnbündelung deutlich weniger Schäden anrichten würden. „Und das im größten zusammenhängenden Waldgebiet Südhessens“, betont Carola Biehal.
Die Bila – und inzwischen auch zahlreiche Unterstützer aus Politik und Wirtschaft – sprechen sich daher seit Jahren gegen diese Variante aus. Dazu gehören etwa Lampertheimer Gewerbetreibende und Naturschutzverbände. Eine Klagedrohung steht außerdem im Raum. Viele fordern, die ICE-Strecke solle parallel zur Autobahn 67 verlaufen. Aktuell stehen noch neben dieser und der Zerschneidungsvariante zwei weitere mögliche Trassen zur Diskussion (eine östliche Bündelung mit der A67 und eine Bündelung mit der A5).
Eine Entscheidung seitens der Bahn über ihre Vorzugsvariante wird für Ende des Jahres erwartet. Sollte sich das Unternehmen tatsächlich für die Variante „C-Trasse“ entscheiden, müssten die Landwirte mit erheblichen Einbußen rechnen, heißt es bei der Protestaktion am Sonntag. So würden etwa dem 80 Meter breiten Korridor für die Bahnstrecke etwa 40 Hektar ertragreicher Boden zum Opfer fallen, heißt es weiterhin.
Neben wertvollen Sandböden liegen in dem Korridor aber auch bedeutende Biotope wie das Bruch, die Grube Feuerstein und ein Angelweiher. Anders als bei einem Lichterzug gegen die Trasse im März gibt es am Sonntag keinen festen Treffpunkt,die Besucher kommen deshalb stoßweise über den Tag verteilt an die markierten Stellen. Einschätzungen über Besucherzahlen seien deshalb schwer. Gegen Vormittag waren es mehrere hundert Menschen. Familie Geier aus Lampertheim fährt den Weg beispielsweise mit dem Rad ab. „Es gehen immer mehr landwirtschaftliche Flächen verloren“, bedauert die Mutter. Das wolle man stoppen.

„Komplizen“ der Bahn
Ulrich Guldner hätte die 2000 Protestierenden vom Lichterzug im März gerne übertroffen. „Eigentlich müsste jeder Lampertheimer kommen“, betont der Sprecher der Bila und schiebt nach: „Wer nicht mitmacht, macht sich zum Komplizen der Bahn.“ Das sehen einige Besucher genauso. Viele verbinden es mit einem Sonntagsspaziergang oder einem Familienausflug. So mutet die Aktion mehr wie eine Infowanderung als ein Protest an. „Wir sind trotzdem überzeugt, dass es etwas bringt“, sagt eine Gruppe aus Lampertheim. „Die Bahn registriert das sehr wohl“, sagt auch Guldner. Viele Besucher hätten sich statt des offenen Zeitplans aber eine feste Uhrzeit gewünscht, um „ein stärkeres, punktuelles Signal zu senden“.
Für diese moralische Unterstützung bedankt sich Willi Billau. Der Lampertheimer Landwirt und Vorsitzende des Regionalbauernverbandes Starkenburg verteilt an einem Stand Gemüsetüten mit Karotten, Kartoffeln, Knoblauch, Buschbohnen, Schalotten und Zwiebeln. „Um zu zeigen, was wir hier alles anbauen“, sagt er.
Trotz der zahlreichen Aktionen befürchten die Besucher, dass sich die Bahn am Ende doch für die Zerschneidungsvariante entscheidet. „Geschwindigkeit vor Natur. Das war schon immer so und wird immer so sein“, sagt Jürgen Katzmarzik, „das führt doch nur in die Katastrophe“. Die Bila hat allerdings noch Hoffnung, die „Katastrophe“ abzuwenden. Eines hat die Bürgerinitiative an diesem Sonntag auf jeden Fall erreicht: Viele Besucher gaben sich überrascht über das tatsächliche Ausmaß der ICE-Trasse.

© Südhessen Morgen, Montag, 23.09.2019