Südhessen Morgen vom 30. August 2019

Von Uwe Rauschelbach

LAMPERTHEIM. Im „Jahrhundertprojekt“, der lückenlosen Schienenverbindung zwischen Rotterdam und Genua, droht Lampertheim zum „großen Verlierer“ zu werden. So jedenfalls sieht es die Bürgerinitiative „Lebensraum vor ICE-Trasse“ in Lampertheim (Bila). Sie ruft deshalb, gemeinsam mit Lampertheimer Landwirten, zu einer weiteren Protestaktion auf. Deren Ziel ist es, eine „C“-Trasse, die den Lampertheimer Wald bei Neuschloß zerschneiden würde, zu verhindern.
Große Aufmerksamkeit war der Bürgerinitiative sicher, als sich im März ein Lichterzug durch den Wald bewegt hat – auf einem Weg, der parallel zur gedachten Zerschneidungstrasse verläuft. In der Abenddämmerung schufen Taschen- und Handy-Lampen von mehr als 2000 Demonstranten ein beeindruckendes Signal, das von einem Hubschrauber aus der Luft gefilmt und fotografiert wurde.

Wertvolles Ackergelände bedroht
Auch am 22. September soll ein unübersehbares Zeichen gesetzt werden. Es soll besagen: Die Bürger dieser Stadt lehnen eine Bahnschiene ab, die nicht nur ein ökologisch empfindliches Waldsystem schädigen, sondern zugleich wertvolles Ackergelände zerstören würde. Schon im März hatten die Lampertheimer Landwirte deshalb mit Traktoren den Lichterzug in Richtung Süden verlängert – dorthin also, wo eine C-Trasse in einer Diagonale Kurs auf die Riedbahn nehmen würde.
Außerdem haben sich die Bauern inzwischen rechtlichen Beistand gesichert; sie wollen, neben dem drohenden Flächenverlust durch eine Südumfahrung bei Rosengarten, kein weiteres landwirtschaftliches Gelände – in Rede stehen 40 Hektar – an ein überregional bedeutsames Verkehrsprojekt verlieren. Überdies würde der Schienenbau und eine damit einhergehende Verlegung der jetzigen Kreisstraße 3 stadteinwärts zusätzliche ökologische Ausgleichsflächen erfordern, die den Landwirten weitere Verluste zumuteten. Darin sähe auch Bila-Sprecher Karl Hans Geil ein existenzbedrohendes Szenario. Bila-Sprecher Karl-Heinz Barchfeld macht obendrein deutlich, dass auch die miteinander vernetzten Biotope wie Bruch, Hegeweiher, Grube Feuerstein und Heidebuckel ihre ökologische Funktion einbüßten, sollte die ICE-Trasse wie befürchtet realisiert werden. Auch der Naherholungswert dieses Gebietes für die Bevölkerung stünde auf der Kippe.
Negative Auswirkungen hätte eine C-Variante aus Sicht von Bila-Sprecher Geil zudem, was eine innerstädtische Verlärmung durch zunehmenden Güterverkehr auf der Schiene betrifft. Gleichzeitig sänke die Hoffnung auf den geplanten Ausbau des S-Bahnverkehrs. Dies dokumentiere, wie sehr die angekündigte Verkehrswende auf der Strecke bleibe. Wenn die aus den 1980er Jahren stammenden Verkehrsplanungen in zehn Jahren umgesetzt sein würden, wären die Planungen 50 Jahre alt – und damit veraltet. Dies bedeute, dass mit der Realisierung einer C-Trasse lediglich ein Provisorium geschaffen würde.
Bila-Sprecher Ulrich Guldner unterstreicht ebenso die Position der Landwirte: „Wir wollen Spargelbalken und keine Bahnschwellen.“ Außerdem würde eine Bahnschiene die Stadt in ihren Entwicklungsmöglichkeiten weiter einschränken. Er appellierte deshalb an die Bevölkerung, sich an der Protestaktion am 22. September rege zu beteiligen: „Wenn keiner was tut“, so Guldner, „wird hier nichts geschehen“. Dann hätte die Bahn freies Spiel, ihre offenbar favorisierte C-Trasse durchzusetzen. Wie berichtet, wird erwartet, dass sich die Bahn bis zum Ende dieses Jahres auf eine Vorzugstrasse festlegt.
Diesbezüglich soll mit der Protestaktion das Eintreten für die Konsenstrasse – die weitgehende Bündelung der Bahnschiene mit der parallel verlaufenden A 67 und im weiteren Verlauf der A 6 – bekräftigt werden. „Wir müssen Flagge zeigen!“, mahnt Bila-Sprecher Ulrich Guldner.

Protestaktion

Neue Missstände

Von Uwe Rauschelbach

Noch hat die Bahn nicht verlauten lassen, welche der möglichen Varianten für eine Schienenneubautrasse den Vorrang bekommen soll. Das kann man positiv wie negativ deuten: Wägt sie ab, nachdem die Region gegen die Wald-, Acker- und Biotop- Zerschneidungstrasse auf die Barrikaden gegangen ist – oder rückt sie mit der Vorzugsvariante so spät wie möglich heraus, um die von der hiesigen Bevölkerung ungeliebte Variante möglichst unbehelligt durchs weitere Verfahren zu drücken?
In welche Richtung auchimmer die bevorstehende Entscheidung weist, so kommt die geplante Protestaktion im September womöglich gerade noch rechtzeitig, um der Bahn nochmals ein eindeutiges Signal zu senden. Dabei wird nicht wenig davon abhängen, wie stark die Beteiligung an dieser Aktion sein wird. Im März war die Resonanz mit weit mehr als 2000 Demonstrationsteilnehmern inklusive Hubschraubereinsatz bemerkenswert. Ende September sollte möglichst noch ein wenig draufgelegt werden. Denn nun wird es ernst.
Der von Beobachtern als „Jahrhundertprojekt“ bezeichnende Lückenschluss im europäischen Schienen-Fernverkehrsnetz hat, wie immer deutlicher wird, kommunal relevante Auswirkungen auf mehreren Ebenen: Entschieden wird nicht nur über die Zukunft des Lampertheimer Waldes, sondern auch über den Wert einer Naherholungs-, einer Biotop- und einer Ackerfläche im großen Maßstab. Dabei ist die Argumentation der Lampertheimer Landwirte ähnlich wie mit Blick auf die geplante Südumgehung in Rosengarten. Allerdings mit dem Unterschied, dass in Rosengarten ein ganzer Stadtteil unter bislang ungelösten Verkehrsproblemen leidet, während im Fall der Bahntrasse keine Missstände behoben, sondern ausnahmslos neue geschaffen würden.

© Südhessen Morgen, Freitag, 30.08.2019